Gedanken zu „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas
Theodule Ribot:die leere Flasche; Städel Museum, Frankfurt am Main

Gedanken zu „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas

Theodule Ribot:die leere Flasche; Städel Museum, Frankfurt am Main

„Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden. [1]

So schön und wortgewandt beginnt Hans Jonas seine Ausführung zu einer neuen Ethik der Verantwortung. Ein Buch, erschienen im Jahr 1979, welches mir beim Lesen im Jahr 2021 sowohl veraltet, modern und visionär erschien. Veraltet ist es dabei einmal im negativen Sinne, wenn es sich an einer ausführlichen Diskussion am Marxismus und seiner Idee der Utopie abarbeitet. Veraltet ist es aber auch im positiven Sinne, wenn Hans Jonas kleingliedrig und gewissenhaft seine philosophischen Schlüsse erläutert, die von ihm verworfenen Alternativen nennt, die angenommenen Prämissen aufzählt und nacheinander herleitet. Die Modernität zeigt sich am offensichtlichsten im immer aktueller werdenden Thema: der menschliche Einfluss auf die gesamte Natur und jedes größere Ökosystem dieses Planeten und die damit verbundene Frage nach der Belastungsgrenze der weltweiten Ressourcen. Das Visionäre zeigt sich deutlich in seinem guten Blick für Probleme, so erläutert er die Frage der Erderwärmung bereits jenseits des Treibhauseffekts und der Menge an Treibhausgasen. Sein Blick fällt auf die insgesamte Energienutzung und deren Abwärme. Bei zu hoher Energieproduktion, selbst wenn diese keine Treibhausgase produziert, würde die Abwärme bereits ausreichen, um eine Klimaerwärmung herbeizuführen. Das Buch bereicherte mich, neben der immer wieder aufleuchtenden Sprachkraft, vor allem mit dem Zusammenspiel aus aktuellen Themen, zukunftsweisendem Problembewusstsein und klassischer Gelehrtheit.

Direkt beim Einstiegsthema, der neuen technischen Macht des Menschen, zeigt sich Hans Jonas zukunftweisendes Problembewusstsein. Die Neuheit der menschlichen Macht erzeugt neue Verantwortungen. Mit den neuen technischen Möglichkeiten kann der Mensch alles verändern: jedes Lebewesen, jeden Lebensraum, jede Landschaft. Diese Macht und die dazugehörige Verantwortung sind neu, daher hilft beim Umgang mit ihr vergangene Erfahrung nicht mehr. In der vorherigen Geschichte der Menschheit war die nicht belebte Umwelt in Form der Natur so groß, dass bedenkenlos aus ihr entnommen werden konnte, ohne sie als Ganzes zu gefährden. Die Lebensumstände der Generationen waren so ähnlich, dass das Wesen des Menschen, seine Umstände und damit auch das gute und richtige Verhalten als konstant angesehen werden konnten. Die Auswirkungen des eigenen Handelns im Alltag waren räumlich und zeitlich so nah, dass die Frage nach dem guten und richtigen Leben sich auf den Umgang mit den unmittelbar Anwesenden einschränken konnte.

Da all dies nicht mehr gilt, braucht es einen neuen Ausgangspunkt für die Ethik. Die klassische Begründung für ethisches Verhalten, die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten zwischen gleichzeitig lebenden Menschen, sagt nichts über die Zukunft, den Erhalt der Menschheit auf der Erde aus. Hans Jonas glaubt, anders als ich, an überindividuelle absolute Werte und widmet der Herleitung seiner neuen Ethik aus diesen sehr viel Raum. Am Ende dieser Herleitung landet er bei folgendem Grundsatz:

Handele stets so, dass es eine Menschheit geben wird, die ein menschenwürdiges Leben führen kann.

Hans Jonas fordert für eine wirkmächtige Ethik, dass sie durch ein Gefühl vermittelt wird. Da seine Ethik nicht nur das Hier und Jetzt sondern auch die Zukunft miteinschließt, eigenen sich die historischen Ethikgefühle nicht: Liebe, Wohlwollen und Ehrfurcht beziehen sich nicht auf die Zukunft. Hans Jonas wählt die Verantwortung als zukunftsweisendes Gefühl. Die Entwicklung des Verantwortungsbegriff war für mich eine der stärksten Stellen des Buches. Hans Jonas entwickelt diesen ausgehend von zwei Rollen: Eltern und Staatsmann. Für Situationen, in denen Verantwortung vorliegt, muss folgendes gelten:

  • Der Verantwortliche muss Macht über den Gegenstand der Verantwortung haben
  • Der Gegenstand der Verantwortung muss verletzlich, das heißt in seiner Existenz bedroht, sein
  • Der Verantwortliche muss den Gegenstand der Verantwortung wertschätzen und erhalten wollen

Der Bezug zur Macht und damit der Fähigkeit etwas ändern und tun zu können, erklärt direkt, warum die enorme Zunahme von technischen Fähigkeiten einen Bedeutungszuwachs der Verantwortung nach sich zieht. Die aus dieser Macht folgende Gefährdung des ganzen menschlichen Lebens auf der Erde hat keinen Bezug zu klassischer wechselseitiger Ethik. Dies spiegelt sich in der Einseitigkeit der Verantwortung: Diese tragen zum Beispiel nur die Eltern für das Kind. Aus dieser Einseitigkeit folgt eine widersprüchliche Freiheit des Verantwortlichen. Nichts zwingt ihn, die Verantwortung anzunehmen, wenn er es aber tut, so werden seine Handlungen durch die Sorge um den Gegenstand der Verantwortung und seinen Fortbestand bestimmt. In der Verletzlichkeit liegt somit der Zukunftsbezug der Verantwortung, da der Fortbestand der verantworteten Sache eben fortwährender Handlungen bedarf. Zu dieser Verletzlichkeit passt auch eine meiner Lieblingsstellen des Buches:

„Auch für den Anblick totaler Abhängigkeit des Kindes gibt es ein, wenn auch etwas abstrakteres, Analogon im politischen Subjekt: das allgemeine, aber stets am Besonderen anschaulich werdende Wissen, dass die Dinge des Gemeinwohls sich nicht einfach ‚selber machen‘, ‚von selbst gehen‘, sondern bewusster Leitung und Entscheidung, fast immer der Besserung und manchmal der Rettung bedürfen – mit einem Wort, das auch die res publica ein Geschöpf der Notdurft ist.“

Der Verantwortungsbegriff von Hans Jonas geht mit seinem Zukunftsbezug über die Verantwortung für die Wirkungen eigener Handlungen hinaus. Die Verantwortung erstreckt sich auch auf unvorhersehbare Auswirkungen eigener Taten sowie insgesamt unvorhergesehene Ereignisse. Dies ist besonders schwierig, da der wissenschaftliche und technische Fortschritt, welcher neue bisher unbekannte Möglichkeiten schafft, aufgrund dieser Neuheit ebenfalls dafür sorgt, dass die Auswirkungen dieser neuen Möglichkeiten nur grob abschätzbar sind. Dadurch wird der Raum des Unvorhersehbaren größer. Innerhalb dieser großen Prognoseunsicherheit wählen Handelnde häufig das für sie beste Szenario und entziehen sich so in der Gegenwart ein Stück weit der Verantwortung. Der Zukunftsbezug und die Unumkehrbarkeit möglicher Schäden erzeugen auch die Notwendigkeit, in der Gegenwart Verzicht zu üben, um eine Zukunft zu ermöglichen. Dieser Verzicht ist für die Demokratie schwierig, da sie durch die regelmäßig wiederkehrende Abfrage der individuellen Meinungen zum Wahltermin einen starken Gegenwartsbezug hat und zudem zu Handlungen neigt, die in Wahlzyklen realisierbar und erfahrbar sind.

Wie treffend diese zwei Analysen von Hans Jonas sind, lässt sich am Diskurs zum Klimawandel sehen. Der Gegenwartshang von Demokratien wird an der Bundestagswahl 2020 deutlich. Obwohl bei den Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen der Klimawandel im Jahr 2019 im Wahlherbst von ca. 45 % als eines der zwei wichtigsten Probleme für Deutschland genannt wurde, war laut Forschern kein einziges der Wahlprogramme der Parteien geeignet, Deutschlands nötigen Beitrag zum 2-Grad-Ziel zu liefern. Nicht einmal das gegenwärtige Problembewusstsein von 45 % der Wähler hat in den unverbindlichen Wahlprogrammen zu ausreichenden Handlungsvorschlägen geführt.
Der menschliche Hang unter vielen Prognosen die angenehmsten zu wühlen wird ebenfalls beim Klimawandel sichtbar. Ein Beispiel ist, dass sogar das „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) unter den Strategien zur Begrenzung des Klimawandels einen eigenen Bericht zu CO2-Speichermethoden veröffentlicht. Dabei ist es viel schwieriger Treibhausgase aus der Atmosphäre zu entziehen und zu speichern, als einfach davor auf die Freisetzung von Treibhausgasen zu verzichten. Zudem sind die Speichermethoden schwer zu kontrollieren und nur wenig erforscht.

Da die gesteigerte Macht des Menschen zu Schäden führt, die so groß und unumkehrbar sind, dass niemand aus diesem Schaden klug werden kann, fordert Hans Jonas, dass „der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung.“ Ihm ist dabei das Präventionsdilemma bewusst: Sollte die Unheilsprognose zu einem Einlenken und somit zur Verhinderung des prophezeiten Unglücks führen, so sieht sie rückblickend übertrieben aus. Zudem lässt sich bei Prävention nie erkennen, ob die erfolgte Maßnahme angemessen war, da auch jede beliebige Menge mehr Vorsicht oder mehr Verhaltensänderung das Unglück verhindert.

Mit dem Aufzeigen solcher Probleme und schwierigen Mechanismen endet leider der Teil des Buches, den ich als bereichernd empfand. Im weiteren Verlauf des Buches behandelt Hans Jonas zwei Themenkomplexe: Erstens dass Diktaturen -konkret der Marxismus- das Problem nicht besser beherrschen können als Demokratien und zweitens die These, dass zu viel Wohlstand nicht wünschenswert sei. Die Beschäftigung mit dem Marxismus war 1979 vielleicht notwendig. Die Widerrede gegen den Traum des materiellen Wohlstands scheint mir jedoch weit hinter der sonstigen Analysetiefe des Buches zurückzubleiben. Hans Jonas behaupte, dass es ohne Notwendigkeit keine Freiheit und keine Würde geben kann. Tätigkeiten, die nicht nötig sind, könnten den Menschen nicht befriedigen: „die Scheintätigkeit schützt so wenig vor Anomie oder Verzweiflung wie die Untätigkeit…“. Zu diesen Scheintätigkeiten zählt er für die meisten Menschen auch Hobbys und künstlerische Aktivitäten[2], denen ohne Not schlicht Sinn und Wirklichkeit fehlt. Mir drängt sich das Gefühl auf, dass Hans Jonas hier auf seinen Wunsch reingefallen ist, sich die Opfer, die er für den Erhalt einer lebenswerten Welt als nötig erachtet, schön zu reden. Diesen Weg werden aber nicht viele mit ihm gehen, da zu allen Zeiten ein Großteil der Menschheit Wohlstand und materiellen Besitz erstrebenswert fand. Zudem gelingt es gerade in der modernen Zeit vielen Menschen sich mit Hobbys und nicht notwendigen Berufen lange Zeiträume sinnstiftend auszufüllen: Influencer, Gamer, Profisportler, Werbedesigner seien aus meiner Sicht als Beispiele genannt.
Unabhängig von diesen Inhaltlichem Problem, empfinde ich es als schwierig, wenn der Lebenswandel eines Autors seiner Argumentation nicht folgt. Hans Jonas versucht den Verzicht auf Wohlstand zu beschönigen, indem er die Not zur einzig wahren Quelle von Sinn und Wirklichkeit erklärt. Diese Idee scheint mir mit seinen eigenen Lebensentscheidungen nicht übereinzustimmen. Hans Jonas hat Philosophie studiert; er hat im zweiten Weltkrieg gekämpft; er hat in Israel gekämpft und sich dann wieder für ein Leben als Philosophieprofessor entschieden. Bei all dem Wert, dem man der Ethik und der Philosophie als Wissenschaften zuschreiben mag, von Notwendigkeit sind sie weiter entfernt als viele andere Lebensinhalte.

Eine Stelle aus Hans Jonas Diskussion des Marxismus hat mich zum Denken angeregt: „Die schlichte und weder erhebende noch niederdrückende, aber allerdings in ehrfürchtige Pflicht nehmende Wahrheit ist, dass der ‚eigentliche Mensch‘ seit jeher da war… .“
Wenn der Mensch immer ist, was er war, was sagt das darüber aus, dass die von Hans Jonas 1979 aufgezeigten Probleme sich eher verstärkt haben[3], obwohl seine Verantwortungsethik weithin gehört wurde? Was liegt der menschlichen Maßlosigkeit zu Grunde? Zumindest hier drängt sich mir ein Ansatz auf: Neben den materiellen Bedürfnissen wie Essen und Wohnraum haben wir als Menschen auch soziale Bedürfnisse. Die sozialen Bedürfnisse orientieren sich an unsere Umwelt. Wenn ich heute in Deutschland in einer sehr kleinen Wohnung lebe, nur Lebensmittel aus dem Supermarkt kaufen kann und mir Urlaub nur bei Verwandten möglich ist, so bin ich in dieser Gesellschaft relativ arm und empfinde mich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als arm. Dass es mir damit materiell besser geht, als vielen Menschen an anderen Orten oder zu anderen Zeiten hilft mir dabei nicht, mich als reich zu empfinden. Zum einen formt meine Umwelt meine Erwartungen und meinen Anspruch, zum anderen beruht sozialer Status auf Vergleiche zwischen verschiedenen Menschen, deren Fähigkeiten und Lebenssituationen. Die Menschen mit denen ich mich vergleiche sind mir dabei nah, indem sie entweder aus meiner Umgebung sind oder in den von mir genutzten Medien eine hohe Sichtbarkeit haben. Sowohl mein Anspruch als auch mein relativer Vorsprung vor anderen sind nach oben offen und nicht, wie beispielsweise mein Hunger durch das Fassungsvermögen meines Magens, beschränkt. Dadurch, dass einige Menschen ihren Status durch Vergleiche untereinander herstellen und auch in der Lage sind, Freude aus dem Wissen um Möglichkeiten zu ziehen, entsteht ein materiell nicht zu befriedigendes Bedürfnis. Wenn ich beispielsweise mehr haben muss als ein anderer, um mich im Status höher zu fühlen, so reichen mir auch zwanzig Villen an schönen Orten auf der Welt nicht, solange meine Bezugsperson 100 Villen besitzt. In dieser Relativität liegt auch eine Chance, den materiellen Verbrauch der Menschen einzuschränken. Dies scheint allerdings eine schwierige Aufgabe zu sein in Anbetracht zweier Fakten: Erstens stehen der Menschheit technisch immense Möglichkeiten zur Produktion von Wohlstand zur Verfügung, deren begrenzende Kosten erst in der Zukunft anfallen. Zweitens haben die großen Religionen wie zum Beispiel das Christentum, der Islam und der Buddhismus jede in ihrem Kern eine negative Einstellung gegenüber Wohlstand und prahlerischem Reichtum, konnten aber in den Gesellschaften, in denen sie die dominante Quelle der Ethik waren, trotzdem nicht Luxus und prahlerischen Reichtum verhindern.

Trotz des wenig gewinnbringenden hinteren Teils des Buches, bleibt die Problemanalyse, die Entwicklung des Verantwortungsbegriffs und nicht zuletzt die Sprache wunderbar und dadurch die Lektüre von Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“ gewinnbringend. Daher will ich mit einem Zitat aus dem Letzen Kapitel schließen:

„Hoffnung ist eine Bedingung jeden Handelns, da es voraussetzt, etwas ausrichten zu können, und daraufsetzt, es in diesem Fall zu tun. […] Nicht die vom Handeln abratende, sondern die zu ihm auffordernde Furcht meinen wir mit der, die zur Verantwortung wesenhaft gehört, und sie ist Furcht um den Gegenstand der Verantwortung. […] Der Angst aus dem Wege zu gehen, wo sich ziemt, wäre in der Tat Ängstlichkeit.“


[1] Weiter geht es mit: „Dass die Verheißung der modernen Technik in Drohung umgeschlagen ist, oder diese sich mit jener unlösbar verbunden hat, bildet die Ausgangsthese des Buches. Sie geht über die Feststellung physischer Bedrohung hinaus. Die dem Menschenglück zugedachte Unterwerfung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolges, der sich nun auch auf die Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Herausforderung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist. Alles daran ist neuartig, dem Bisherigen unähnlich, der Art wie der Größenordnung nach: Was der Mensch heute tun kann und dann, in der unwiderstehlichen Ausübung dieses Könnens, weiterhin zu tun gezwungen ist, das hat nicht seinesgleichen in vergangener Erfahrung. Auf sie war alle bisherige Weisheit über rechtes Verhalten zugeschnitten. Keine überlieferte Ethik belehrt uns daher über die Normen von »Gut« und »Böse«, denen die ganz neuen Modalitäten der Macht und ihrer möglichen Schöpfungen zu unterstellen sind. Das Neuland kollektiver Praxis, das wir mit der Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein Niemandsland.“

[2] Echte Künstler scheinen ausgenommen zu sein, was auch immer dies heißt.

[3] So haben wir laut Global Footprint Network 1980 116 % der Erde benötigt und 2015 141 %.

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