Das neue Jahr fängt gut an, ich sitze in meiner Küche und diskutiere mit einem Freund die Voraussetzungen für westliche liberale Demokratien. Während des Gesprächs stelle ich fest, dass sich mein Interesse zunehmend verliert, je größer der Abstand unserer Gedanken zur wirklichen Welt wird. Daraus ergibt sich die Frage: Welche Bedeutung hat die Wirklichkeit für mich beim Denken?
Ohne Anknüpfung an die Wirklichkeit kann aus dem Denken keine Erkenntnis über die Welt folgen. Erkenntnis meint hier das Verstehen von Zusammenhängen und Kausalitäten. Während in Gedanken alles Mögliche vorstellbar ist, gibt es in der Wirklichkeit nur begrenzte Möglichkeiten. Ich kann mir vorstellen, Kraft meiner Gedanken zu fliegen, ich werde es aber nicht in die Tat umsetzen können.
Diese Einschränkung meiner Vorstellungskraft schafft erst einen Startpunkt, von dem aus ich Theorien, Modelle und Vorhersagen entwickeln kann. Diese Gedanken lassen sich dann anhand der Erfahrung mit der Welt bewerten und weiterentwickeln. Sind meine Gedanken und Theorien schließlich passend zur Wirklichkeit, sagen sie Zusammenhänge und bestimmtes Verhalten vorher: so können diese Theorien mein Handeln erfolgreich leiten. Als Lehrer habe ich zum Beispiel verschiedene Theorien, wie es mir gelingt die Schülerinnen und Schüler zu bilden: Motivation kommt durch die zwischenmenschliche Bindung zustande; Motivation kommt durch das Interesse am Inhalt zustanden; die Merkfähigkeit lässt sich durch fühlbare Objekte und Exkursionen zu besonderen Lernorten steigern; Selbstdisziplin und langweiliges Üben sind notwendig.
Der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und der Annäherung an die Wirklichkeit durch mein Modell droht vergessen zu werden, wenn mein Modell die Wirklichkeit gut beschreibt. Es ist aber wichtig, sich des Unterschieds zwischen Modell und Wirklichkeit bewusst zu sein. Durch diesen Unterschied ist es mir möglich- auch wenn meine Modelle funktionieren und ich mit den Ergebnissen zufrieden bin -, mir bewusst zu sein, dass andere Modelle zu noch besseren Ergebnissen führen könnte. Im Beispiel könnte ich übersehen, dass noch mehr Bildung möglich wäre, wenn ich nur bessere Lerntheorien hätte. Bei voraussetzungsreichen Sachverhalten bin ich mir der Vielzahl der im Modell eingearbeiteten Voraussetzungen gar nicht bewusst: Die Bedeutung von Textverständnis für meinem Mathematikunterricht fällt mir erst auf, wenn das Textverständnis zu schlecht ist. Wenn ich mir bewusst bin, dass meine Ideen von gutem Unterricht eben nur Modelle sind, kann ich schneller feststellen, wenn diese Modelle nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmen, gerade wenn sich unbewusste Voraussetzungen geändert haben. Neben diesem zeitlichen Vorteil gibt es auch noch einen in der Einstellung. Den Begriffen Modell und Theorie wohnt bereits eine Abhängigkeit inne: Ein Modell soll etwas nachbilden, eine Theorie soll etwas beschreiben. Wenn die Wirklichkeit also nicht mit den Modellen übereinstimmt, haben sie ihren Zweck nicht erfüllt. Bin ich mir dieser Abhängigkeit bewusst, fällt es mir leichter, falsche Gedanken zu verwerfen und neue zu suchen. Bin ich mir dessen nicht bewusst, fällt es mir schwer Handlungstheorien zu ändern, die mir jahrelang Erfolg gebracht haben. Mitunter bin ich mir nicht einmal bewusst, dass sich die Gegebenheiten geändert haben, wenn ich meine Handlungstheorien mit der Wirklichkeit verwechsle.
Die Rolle der Wirklichkeit als Prüfstein für das eigene Weltbild wurde vielfältig festgestellt. In der Neuro-Linguistische-Programmieren-Szene und der effektiven-Altruismus-Szene wird dies in folgendem Mantra anerkannt: „the map is not the territory“. Auch Karl Popper schätzt die Rolle der Wirklichkeit als Prüfstein und hängt seinen Wissenschaftsbegriff an der Widerlegbarkeit der wissenschaftlichen Theorien auf. Für mich selbst verpacke ich die herausragende Rolle der Wirklichkeit in dem Mantra: „Die Realität gewinnt immer“.
Nachdem ich erkannt habe, dass die Wirklichkeit der Prüfstein für die Nützlichkeit meiner Gedanken ist, bleibt die Frage, warum Menschen sich in Gesprächen und Denkprozessen regelmäßig von der Wirklichkeit entfernen. Anders formuliert: Hat es einen Nutzen sich beim Denken mittels der Vorstellungskraft von der Wirklichkeit zu entfernen?
Die Vorstellungskraft kann ein Ausweg sein, wenn ich mit der Wirklichkeit nicht zufrieden bin, meine Ziele nicht erreichbar sind und ich keinen glaubhaften Ausweg sehe. Dies hilft aber nicht beim Denken und soll daher nicht weiter beleuchtet werden.
Zum anderen wird der Raum der Vorstellungskraft durch die Einschränkung der Gedanken und die begrenzten Möglichkeiten der Wirklichkeit verengt. Streng genommen verengt die Wirklichkeit sich auf das sehr kleine Hier und Jetzt. Es ist möglich, sich in der Geschichte frühere Wirklichkeiten, andere Begebenheiten und Zusammenhänge anzuschauen und auf dieser Grundlage zu Erkenntnissen zu kommen. Hier nun hilft die Vorstellungskraft, indem sie mir andere Wirklichkeiten zugängig macht. Da ich glaube, dass es Freiheit in der Welt gibt und unsere Handlungen die Zukunft beeinflussen können, können wird durch die Vorstellung anderer Wirklichkeiten etwas lernen und gegebenenfalls in einer uns genehmeren Zukunft landen. Dazu muss man sich bewusst werden, dass in der Wirklichkeit zwar nicht alles möglich ist, aber mehr als die eine eingetretene Welt und Wirklichkeit möglich gewesen wäre[1]. Ich liebe meinen Beruf, aber andere Berufe könnte ich auch lieben, ich hätte sogar andere Berufe ergreifen können. Diese anderen Wirklichkeiten sind nicht beliebig, viele Berufe bleiben mir auch in der Vorstellung verschlossen, wenn die Vorstellung denn hätte wirklich werden können: Ich werde in keiner sinnhaften Vorstellung mittels meiner Gedanken fliegen können, oder Präsident der USA oder bildender Künstler sein. Bei meinen Denkprozessen ist die Einschränkung meiner Gedanken und Ihre Ausrichtung entlang der Wirklichkeit nötiger, da ich mir der vielfältigen Möglichkeiten schon bewusst bin und eher danach suche, welche von ihnen auch umsetzbar sind. Das Auffinden andere Denkansätze durch die Vorstellungskraft ist mir daher selten nötig, sodass sich in Gesprächen mein Interesse verliert, wenn das Land der Phantasie betreten wird.
[1] Niklas Luhmann definierte den Begriff wie folgt: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“ Damit bezog sich Luhmann auf Aristoteles, der Kontingenz als nicht notwendig und nicht unmöglich sah: „Es könnte auch anders sein.“
Auch träumen ist erlaubt. Man darf sich nur nicht in die Traumwelt verlieren.
Sehr schön mein lieber Junge.